Wenn Wände reden könnten, würde das Nomad Hotel London eine bewegende Geschichte erzählen. Die Brand gehört zum Portfolio der US-amerikanischen Sydell Group, deren Gründer Andrew Zobler für seine Vorliebe für geschichtsträchtige, charakterstarke Gebäude bekannt ist. „Zuerst treibt uns die Einzigartigkeit der Immobilie selbst und dann der Markt an“, sagte der CEO 2018 im Forbes-Interview. Für das erste Haus außerhalb Amerikas hat die Gruppe das passende, denkmalgeschützte Gebäude in einem alten Londoner Amtsgericht und Gefängnis gefunden.
Das Nomad London liegt im Herzen der Kapitale, eine halbe Meile vom geografischen Zentrum der Stadt („Centre Point“) entfernt und in direkter Nachbarschaft des Royal Opera House. „Wir verlieben uns in eine Immobilie und kreieren dann das Konzept um die Nachbarschaft und ihre Community herum“, erklärt auch Michelle Walder, Director Development und Projekt bei der Sydell Group. So ist der Name Nomad für North of Madison Square Park eine Hommage an jene New Yorker Nachbarschaft, in welcher 2012 das erste Haus der Brand eröffnete.
Erbaut 1883 in der Bow Street, befindet sich auf der einen Seite des atriumartigen Innenhofs die einstige Polizeiwache mit Gefängniszellen, auf der anderen Seite das frühere Amtsgericht. Letzteres wurde von den Londoner Richtern etabliert, noch bevor die Polizei städtisch organisiert war. Deshalb beschäftigten die Richter sogenannte Bow Street Runners, welche die verurteilten Straftäter in ihre Gefängniszellen überführen sollten. Nicht selten wurden die Bow Street Runners bestochen und ermöglichten den Straftätern die Flucht. Daher wurde der zwischen den beiden Gebäuden liegende Innenhof schließlich umschlossen und die ursprünglich baulich separierten Gebäudetrakte wurden miteinander verbunden.
„London Bridge“
Das in dem ehrwürdigen Wahrzeichen von Covent Garden eröffnete Nomad Hotel erzählt eine Geschichte der Gegensätzlichkeit und schlägt zugleich Brücken zwischen Vergangenheit und Gegenwart, zwischen New York City und London, zwischen Nomaden und Sesshaften. „Das Londoner Nomad soll eine Konversation zwischen London und New York City sein,“ sagt Walder, die die New Yorker DNA der Marke nach Europa bringt. Als gebürtige New Yorkerin und Tochter europäischer Eltern versteht sie es, Brücken zu schlagen.
„Man könnte fast sagen, dass im Nomad London Historie und Gegenwart miteinander kokettieren“, erzählt Walder. Und weiter: „Einer der bekanntesten Gefängnisinsassen war sicherlich Oscar Wilde. Der irische Schriftsteller wurde hier wegen grober Unsittlichkeit (Gross Indecency) zu einer Gefängnisstrafe verurteilt. Unser Night Club trägt deshalb den Namen ‚Common Decency‘, was übersetzt so viel wie ‚gute Sitten‘ bedeutet und auch im Wording den Kontrast zur Historie der Immobilie spielt.“
„Mit der Juxtaposition zweier so konträrer Sphären gezielt zu spielen, macht Spaß.“
Die ehemaligen Gefängniszellen wurden im Rahmen der Umnutzung bewusst erhalten und sind das Highlight bei Hausführungen. Walder: „Hier atmet die teils grausame Vergangenheit des Ortes.“ Vom Kleinkriminellen bis zum Mörder büßten in diesen Wänden Straftäter ihre Sünden ab. „Auf der anderen Seite der Zellenwände befindet sich unser Restaurant, in dem wir unseren Gästen Köstlichkeiten vom Trüffel bis zur 1.000 Pfund teuren Weinflasche servieren. Mit der Juxtaposition dieser beiden so konträren Sphären gezielt zu spielen, macht Spaß.“
„Letting the guest lead“
Wie die Gäste des Nomad all diese bewusst gespielten Kontraste wahrnehmen, bleibt ihnen überlassen. Das Prinzip „letting the guest lead“ bestimmt dabei die Customer Journey. Während ein Teil der Klientel gern an die Hand genommen wird, zieht es ein anderer vor, das Nomad und seine multisensorischen Reize selbstständig zu erkunden und zu erleben. Das Nomad Team wird daher regelmäßig geschult um erkennen zu können, welche Journey die Gäste wünschen.
Zu den Mitarbeitenden des Nomad London zählen unter anderem Schauspieler, Musiker und ein Sommelier, der selbst Wein anbaut. „Wir ermutigen unsere Teammitglieder, ihre Persönlichkeiten auch in ihrer zweiten Leidenschaft neben der Hospitality auszuleben. So arbeiten einige in Teilzeit und nutzen den Rest der Woche beispielsweise für die Aufnahme eines neuen Albums. All diese Erfahrungen, die unsere Teammitglieder in ihrem Leben außerhalb des Hotels machen, sind wiederum Grundlage für das individuelle Storytelling eines jeden Mitarbeitenden. Nur wenige Industrien ermöglichen dies. Und das ist in meinen Augen ein echtes Highlight der Hospitality Branche.“
„Unsere Meet-ups sind fast eine Religion geworden“
„Let’s inspire each other!“
Um die Balance zwischen Spitzenleistung und Momenten des Durchatmens zu wahren, finden im Nomad täglich Teammeetings statt, die die Mitarbeitenden erden sollen. „Unsere Meet-ups sind fast eine Religion geworden“, sagt Walder und lacht. „Doch es ist genau dieser geschützte Raum, in dem jedes Teammitglied – unabhängig von seiner Position – dasselbe sieht, dieselben Informationen erhält, auf dieselbe Art und Weise angesprochen wird. Unsere Teammeetings sollen immer auch einen ‚Creative Twist` haben, das können zum Beispiel Meditationen sein, sodass unsere Mitarbeitenden eine inspirierende Zeit miteinander sowie mit den Gästen haben.“
Doch nicht nur Teammitglieder und Gäste, ob lokal oder international, sollen eine gute Zeit miteinander haben. Als Herzstück der eigenen Mission sieht Sydell auch die Verpflichtung, die Nachbarschaften der Hotels durch eine Vielzahl an Programmen und philanthropischen Bemühungen zu unterstützen. Das reicht von regelmäßigen Clean-ups des Viertels bis hin zur Unterstützung von Bedürftigen, etwa Obdachlosen, oder dem aktiven Angebot von Jobs. In einem anderen Haus der Sydell Group in Washington, DC (The Line Hotel) etwa stammen 70 Prozent der Mitarbeitenden aus der direkten Nachbarschaft des Hotels.
Und auch Michelle Walder hat ein eigenes Projekt aufgelegt, das genau dieser Mission ihres Arbeitgebers Rechnung trägt: The C Card. Das „C“ steht dabei für Cancer, The C Card bietet Krebspatienten und ihren Angehörigen die Möglichkeit, vergünstigt in Boutique Hotels, derzeit bereits in New York City und Boston, zu übernachten, um die Bürde der Krankheit durch ein schönes Umfeld etwas erträglicher zu machen. Das Roll-out von The C Card in Europa ist bereits in Planung – ebenso wie eine rasche Europaexpansion der Sydell Group.
Laura Schmidt